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Baustelle Bildungssystem: Wie sichern wir unsere Zukunft?

Veröffentlicht am 03.06.2023 in Ortsverein

Fachkräftemangel, Lehrernotstand, sinkende Lernleistungen, gestresste Schüler,

G8 oder G9? Das braucht ein System-Update, davon sind die SPD Ortsvereine des Steinlach-Sextetts überzeugt.

Vergangene Woche diskutierten im Nehrener Schwanen zu diesem Thema der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag – Stefan Fulst-Blei, die Lehrerin und Autorin des Buches „Abgehängt“ - Lisa Graf, die Rektorin des Ev. Blaulach-Gymnasiums in Kusterdingen – Birgit Wahr, der Lehramtsstudent Raphael Diestel und Schulentwickler Friedemann Stöffler, Studiendirektor i.R.

Die spannende Runde wurde begrüßt von Tanja Schmidt, Vorsitzende des SPD-OV Nehren und Christina Apostolidis, Berufsschullehrerin, ebenfalls aus Nehren.

Bereits der Einstieg mit einer Passage aus dem Buch „Abgehängt“, gelesen von Lisa Graf selbst,  thematisierte eindrücklich, mit welcher Bildungsungerechtigkeit Kinder und Jugendliche in unserem Land zu kämpfen haben. Lisa Graf nahm die ca. 40 Anwesenden mit auf eine Reise in ihren Alltag als Lehrerin an einer Mannheimer Brennpunktschule. Fehlende Arbeitsmaterialien, nicht gemachte Hausaufgaben, Familien, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht ausreichend kümmern können, gehören zum Alltag der Lehrerin. Die Ungleichheit der schulischen Leistungen nach sozialer Herkunft hat erschreckende Ausmaße angenommen. Im derzeitigen Bildungssystem  obliegt es dem Zufall, ob SchülerInnen eine gute Schulzeit durchlaufen oder eben nicht. Schule kann nicht ausreichend auf die Probleme unserer Zeit reagieren. Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, Depressionen, Leistungsdruck, Armutsstrukturen, Schulverweigerung, Zuwanderung und Ängste der Schülerinnen und Schüler durch die Krisen unserer Zeit schlagen allesamt in der Schule auf. Die Lehrkraft wird zum Sozialarbeiter, Psychologen, Lernbegleiter - alles in einer Person.

Hier braucht es ein Mehr an Multiprofessionalität, ist auch Birgit Wahr, Rektorin des Ev. Blaulach- Gymnasiums in Kusterdingen der Meinung. Sie berichtet von den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Schülerschaft im Zusammenhang mit der Corona Pandemie, der Sorge der Jugendlichen, dem Leistungsdruck nicht mehr standhalten zu können. Auch ist sie der Überzeugung, dass ein Schulsystem mit Strukturen aus dem 19. Jahrhundert unsere jungen Menschen ganz sicher nicht mehr auf die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts vorbereitet. Eine sich immer schneller drehende Arbeitswelt erfordert Flexibilität, Kreativität und die Bereitschaft zur Mobilität.

Dieser Beschreibung stimmt der Lehramtsstudent für Englisch und Politikwissenschaften, Raphael Diestel zu. Er fühlt sich nicht gut auf den täglichen Unterrichtsalltag an der Schule vorbereitet. Studiumsinhalte und Schulalltag klaffen auseinander. Ebenfalls verliert das Studium durch eine zu lange Ausbildungszeit von 6-7 Jahren und unentgeltliche und zeitlich zu kurze Praktika an Attraktivität. Dennoch hält er aus Überzeugung an seinem Berufswunsch fest. Ein Beruf, der für ihn sinnstiftend ist und einen wertvollen Beitrag für die Zukunft unseres Landes leistet.

Neben der Beschreibung des Notstandes an unseren Schulen thematisierte das Podium auch konkrete Lösungsansätze. Friedemann Stöffler, Schulentwickler und Studiendirektor i.R. ist der Überzeugung: „Verändern wir das Abitur, verändert sich das ganze Schulsystem.“ Der derzeitig

unflexible, starr vorgegebenen Weg zum Abitur hat aus seiner Sicht bedeutenden Einfluss auf die Art des Lehrens und Lernens. Die Arbeit in einer Art Projektstruktur und die Flexibilisierung der zeitlichen Vorgaben auf dem Weg zum Abitur hält er für zwingend notwendig.

Seit Jahren kämpft er leidenschaftlich für eine flexible Oberstufe und das Abitur im eigenen Takt.

Auch die Politik, vertreten durch den SPD-Politiker Stefan Fulst-Blei, nannte einige Stellschrauben.

Gerade von einer Bildungsreise der Landtagsdelegation aus Kanada zurückgekehrt, hatte er einiges an Lösungsansätzen im Gepäck. Das in Kanada sehr viel frühere Eingreifen der Systeme um Bildungsungerechtigkeiten vor Schuleintritt abzumildern, die gezielte Zuwanderung von Migranten und deren Förderungen oder auch das Einsetzen von mehr als nur einer Lehrkraft insbesondere in heterogenen Klassen. Eines ist für den Politiker klar: Bildung braucht einen anderen Stellenwert und benötigt eine andere finanzielle Bewertung. Aus seiner Sicht dürfte dies für Baden-Württemberg durchaus leistbar sein, denn das Land verfügt über beachtliche finanzielle Rücklagen in Höhe von 6,6 Milliarden Euro.

Im Zweiten Teil der Veranstaltung kamen auch die ZuhörerInnen zu Wort und konnten Fragen, Ideen und Anregungen loswerden. Über die Sinnhaftigkeit von Hausaufgaben und die Wertigkeit von intrinsischem Lernen, das aus Sicht einer Grundschullehrerin bereits in den ersten Schuljahren verloren geht, diskutierten die Anwesenden. Von einer Entlastung der Lehrkräfte durch verbesserte Bedingungen im Schulalltag, durch Aufstockung von Verwaltungspersonal, IT-Fachkräften und sonstigem nicht lehrendem Personal war die Rede. Von einer höheren Wertschätzung unserer LehrerInnen und der so wichtigen Aufgabe bezüglich der Zukunftssicherung von uns Allen.

Eines stand für alle Beteiligten fest, Schule braucht eine neue Bewertung und Reformen und zwar grundlegend. Die Zeiten von Flickschusterei und eines irgendwie Aufrechterhaltens des (un)normalen Betriebs müssen endgültig vorbei sein.

Beendet wurde die Veranstaltung, wie sie begann: Lisa Graf erweckte eine ihrer Schülerinnen zum Leben, in dem sie eine Passage vorlas, die verdeutlichte, was es bedeutet sich zu wandeln und über sich hinauszuwachsen. Dies wünschen und fordern wir auch für das deutsche Bildungssystem.